Text wird überbewertet!
„Sie wollen vier Stunden an diesem Text geschrieben haben? Ich schaffe das in fünf Minuten“, sagte mir neulich ein Kunde von oben herab. Dabei schob er mir einen Ausdruck mit unübersehbaren handschriftlichen Kommentaren über den Konferenztisch. Solche und andere abfällige Bemerkungen höre nicht nur ich immer wieder, sondern auch andere, die professionell schreiben.
Kritik gehört zum Geschäft. Was sich aber in den letzten Jahren im Vergleich zu früher geändert hat, ist ihre Häufigkeit. Mir scheint, dass im Zeitalter von Social Media, Kurznachrichten – und gerade jetzt durch diverse KI-Tools – das geschriebene Wort im Gegensatz zur Bildinformation inflationär geworden ist. Der Text ist zum Statisten geworden, und das, obwohl Zeitschriften und Tageszeitungen nach wie vor gelesen werden und die Buchbranche reichlich Bücher verkauft.
Soziale Medien nehmen der Sprache die Vielfalt
Aber das Verständnis für einen Text und die Arbeit, die dahinter steckt, hat abgenommen, und KI-Tools wie Chat GPT haben diese Entwicklung noch beschleunigt. Auf der Strecke bleibt die Seele eines Textes, die persönliche „Handschrift“, die Emotionalität und Kreativität. Dabei geht es nicht nur um den Begriff „Content“, der – wieder einmal – in aller Munde ist. Es geht auch um die Vielfalt des Ausdrucks, die Möglichkeiten der Grammatik, das Spiel mit Synonymen. All das macht einen Text aus.
Darüber hinaus bestimmen die Zielgruppe, die Botschaften und letztlich die Geschichte selbst den Stil. Es macht einen Unterschied, ob man einen Zeitungs- oder PR-Artikel, einen Werbetext, einen Fachartikel, einen Essay, einen Erfahrungsbericht, eine Rede oder gar ein Buch schreibt. Ich bin der Meinung, dass z.B. ein Gutachten durchaus sachlich korrekt, aber dennoch leserfreundlich geschrieben sein kann. Es muss nicht immer wie „trockenes Knäckebrot“ klingen. Ein Vorstandsvorsitzender, für den ich eine Rede geschrieben habe, sagte zu mir, nachdem wir mehrmals über eine Passage in seinem Text diskutiert hatten: „Nehmen Sie das nicht persönlich. Text ist relativ und wird subjektiv bewertet. Das hat nichts mit Ihren Fähigkeiten zu tun.“ Diesen Satz habe ich mir gemerkt, denn er enthält viel Wahres.
Schreiben ist ein Prozess, kein mechanisches Produkt
Ich kann natürlich nur für mich sprechen. Für mich ist ein Text immer etwas Persönliches. Egal, ob es sich um einen Artikel, einen Vortrag oder ein Konzept handelt, mein Anspruch ist es, immer meine Handschrift einzubringen. Selbst Bücher, die ich als Ghostwriter – also im Auftrag eines anderen – geschrieben habe, tragen irgendwo meine individuelle Handschrift. Ich weiß ja nicht, wie andere Autoren arbeiten. Für mich ist das ein dynamischer Prozess. Es kann leicht von der Hand gehen, aber es gibt auch Phasen, in denen das Schreiben zur Qual wird. Dann wollen die Gedanken nicht fließen, die Formulierungen sind unrund und das Geschriebene klingt fade. Fehler schleichen sich in den Text ein, als Zeichen mangelnder Konzentration und innerer Blockaden. Jeder Künstler, Musiker oder Maler kennt dieses Auf und Ab bei der Umsetzung von Gedanken, Ideen und Gefühlen. Und eigentlich jeder, der in irgendeiner Form kreativ ist, kennt diese Dynamik. Kreativität hat viele Ausdrucksformen und Zustände und funktioniert nicht nach „Null und Eins“.
Das geschriebene Wort, der Text, ist nach wie vor ein wesentliches Element der Kommunikation und des Ausdrucks von Kultur. Die ironische Aussage „Text wird überschätzt“ wird weder der Sache, noch der Funktion, noch den Menschen, die beruflich oder zum Vergnügen schreiben, gerecht. Natürlich ist die Bewertung eines Textes subjektiv und liegt wie ein Bild im Auge des Betrachters. Aber wenn Schreiben so einfach und schnell ist, warum wird es dann auch in Zeiten von KI noch in Auftrag gegeben?